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Eine Reise nach Yad Vashem



Liebe Freundinnen und Freunde,


ich bin Wenzel Michalski, der neue Geschäftsführer des Freundeskreis Yad Vashem, und dies ist mein erstes Schreiben an Sie. Ich freue mich sehr auf meine neue Aufgabe. Zugleich ist mir aber auch die besondere Verantwortung bewusst, die diese Position mit sich bringt. Deswegen bin ich umso froher, eine so ausgezeichnete, außergewöhnliche Institution unterstützen zu dürfen. 

 

Es sind beunruhigende Zeiten für Juden weltweit. Der Hass nimmt wieder zu, seit dem 7. Oktober ganz besonders. Altbekannte Verleumdungen, Täter-Opfer-Umkehr und allgemeine Dämonisierung des Judentums finden wieder wachsenden Zuspruch und werden offen und schamlos in aller Öffentlichkeit verbreitet. Holocaust-Verzerrung, -Verharmlosung und -Relativierung sind die Werkzeuge der modernen Antisemiten von Rechts bis Links. In diesen Zeiten ist die Arbeit von Yad Vashem wichtiger denn je; nämlich die Wahrheit über die Shoah zu bewahren und der gefährlichen Geschichtsklitterung mit gründlich recherchierten Fakten entgegenzutreten sowie mit authentischen Geschichten einzelner Schicksale Empathie für die Verfolgten und Ermordeten zu wecken. 

 

80 Jahre nach der Befreiung aus den Konzentrations- und Vernichtungslagern stehen wir aber vor immensen Herausforderungen. Die letzten Überlebenden werden bald nicht mehr unter uns sein. Die Erinnerung droht zu verblassen. Es liegt nun an unserer Generation, die Holocaust-Bildung der nächsten Jahre aktiv mitzugestalten und so die Zukunft der Erinnerung mitzubestimmen. Und wir vom Freundeskreis müssen unser Bestes geben, um Yad Vashem bei dieser großen Aufgabe mit voller Kraft zu unterstützen. 

 

So war es nur logisch, dass mein erster Schritt, noch bevor ich meine neue Position überhaupt antrat, eine Reise zu Yad Vashem nach Israel war. Ziel war es, von den neuen Kolleginnen und Kollegen, den Experten, zu lernen und zu erfahren, welche Antworten sie auf die über allem schwebende Frage gefunden haben: Wie geht es weiter mit der Holocaust-Bildung im 21. Jahrhundert? Das Ergebnis ist beeindruckend und es stimmt mich hoffnungsvoll, dass wir von Yad Vashem der Herausforderung gewachsen sind. Aber: es gibt viel zu tun. 

 

Es war spannend, die Expertinnen und Experten in Yad Vashem kennenzulernen, aber auch Kai Diekmann und andere Vorsitzende und Geschäftsführer internationaler Freundeskreise zu erleben, die sich zur gleichen Zeit, Ende April, in Jerusalem zu einem Leadership Summit trafen und ihre Erfahrungen mit Events und Fundraising austauschten. In diese Tage fiel auch der israelische Holocaust-Gedenktag Yom HaShoah, der jedes Jahr zentral in Yad Vashem mit einer staatlichen Zeremonie begangen wird. Auf meinem Programm stand außerdem die Präsentation einer neuen Außenstelle von Yad Vashem in einem Ausbildungszentrum der IDF. Das ist für uns in Deutschland natürlich äußerst relevant , da hier demnächst das erste Holocaust-Bildungszentrum von Yad Vashem außerhalb Israels entstehen soll. 

 

Irans Bedrohung

 

Doch am Anfang dieser ereignisreichen, bewegenden und lehrreichen Tage standen Briefings zur aktuellen Sicherheitslage Israels. Wie bedrohlich sich der Hass auf Israel und das Judentum konkret auswirkt, wurde uns auf einer Fahrt in den von den Angriffen der Hisbollah gezeichneten Norden Israels vor Augen geführt. In einem atemberaubenden Vortrag eines ehemaligen hochrangigen Geheimdienstoffiziers der IDF erfuhren wir aus erster Hand von der akuten Gefahr durch den Iran.  

 

„Diese Raketen können auch Sie treffen,“ erläuterte der Ex-Offizier und zeigte auf eine Grafik mit Kreisen, die bis weit nach Europa reichen. Er stellte die Reichweite iranischer Raketen dar, die irgendwann, womöglich sehr bald, mit Atomsprengköpfen bestückt werden könnten, wenn es Israel und seinen Verbündeten nicht gelingen sollte, Teherans Nuklearprogramm mittels Verhandlungen oder Gewalt zu stoppen. Ein Lichtblick in dieser gefährlichen Lage sei, dass sunnitische Nahoststaaten Israel in der Eindämmung des Iran unterstützen, auch solche, wie Saudi-Arabien, die das noch nicht offen zugeben. 

 

Eine Stunde später sind wir an der Grenze zum Libanon. Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern, es ist angenehm kühl, die Golanhöhen sind sattgrün, auf dem Gipfel des Mount Hermon ist noch Schnee, hinter uns liegt glitzernd der See Genezareth, in der Ferne schimmert das Mittelmeer.

Es könnte ein Urlaubsparadies sein, doch unser nächster Redner, ein Kibbutznik, sagt bitter lächelnd: „Willkommen an der Grenze zum Iran“ und zeigt auf die wenige hundert Meter unter uns liegenden libanesischen Dörfer. Wir befinden uns im Kibbutz Misgav Am. „Sie sind wieder da! Seht die gelben Hisbollah-Flaggen. Hier und da und da. Sie kommen wieder!“ Das libanesische Dorf, auf das wir schauen, war eine wichtige Stellung der Hisbollah, von der aus sie im Auftrag Teherans Israel seit dem 8. Oktober 2023 länger als ein Jahr ununterbrochen angriff, bis die IDF das Dorf schliesslich vollständig zerstörte. Aber inzwischen hört und sieht man dort wieder Motorräder der Terrororganisation knattern, auch ein Baulaster windet sich die Straße durch die Trümmerlandschaft. Früher einmal lebten in diesem Dorf Christen. Man habe sich gut verstanden, gemeinsame Filmabende und Essen veranstaltet, erzählt der Kibbutznik. Doch dann habe die Hisbollah die Christen gewaltsam vertrieben und die Häuser in Raketenabschussrampen und Munitionslager umgebaut - und Tunnel gegraben. Und das alles unter den Augen der tatenlosen UN-Truppen.

 

Zerstörungen sind auch im Kibbutz zu sehen. Die Schule ist teilweise zerstört, an mehreren Gebäuden sind Einschusslöcher zu sehen. Hier hat vor wenigen Monaten noch Krieg getobt, in einer Dimension, über die in deutschen und anderen westlichen Medien - wenn überhaupt - wenig berichtet wurde. Nur langsam kehren nun die traumatisierten Israeli zurück. Wegen des Beschusses aus dem Libanon war die Region zu 90 Prozent verlassen. Und die fortwährende Präsenz der Hisbollah an der Grenze zeigt, wie riskant die Situation in Israels Norden nach wie vor ist.


Das Musical Memory Project

 

Das Risiko neuer Angriffe bestimmt auch die Realität der Schüler der Region Emek Yizrael. Doch trotz des täglichen Raketenbeschusses und des ewigen Sirenengeheuls bis vor wenigen Monaten noch, ist es Yad Vashem gelungen, hier ein ganz besonders bewegendes Projekt auf die Beine zu stellen: genannt „Musical Memory“. Schülergruppen recherchieren Gedichte aus oder über die Zeit der Shoah, zum Beispiel von Paul Celan und Elie Wiesel, vertonen sie mit eigenen Kompositionen und führen sie auf - mit Gesang, Bass, E-Gitarre, Klavier und Schlagzeug. 

 

Wir bekamen eine bewegende Kostprobe. Nach dem Konzert sprachen die Schüler mit uns über ihre Erfahrungen, was es für sie bedeutete, sich mit dem Holocaust auf diese besondere Weise auseinanderzusetzen. Die Beschäftigung mit den Gedichten, der Bezug zur Geschichte, das Schicksal der Poeten und die anschließende Umsetzung in Musik: dies ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie Holocaust-Bildung auch in Zukunft gelingen kann und ist als Inspiration auch für unsere Schulen hier in Deutschland hervorragend geeignet. „Musical Memory“ ist deswegen ein wichtiges Thema auch für den Freundeskreis, mit dem wir uns weiter beschäftigen werden. 

 

Die Zukunft der Erinnerung

 

Über den Tagen in Jerusalem stand eine große Frage: Wie ist der Erhalt der Wahrheit über den Holocaust und der Schutz vor Relativierung, Verwässerung und Verzerrung dieses Menschheitsverbrechens auch in Zukunft möglich, vor allem wenn bald auch die letzten Überlebenden nicht mehr berichten können? Und hier hat Yad Vashem faszinierende Antworten gefunden und das interaktive, „smarte“ Klassenzimmer entwickelt. 



Es besteht aus einem quadratischen Raum, an dessen vier Wänden jeweils mehrere computergesteuerte Touchscreens hängen. In der Mitte stehen mehrere Hocker. Der Unterricht findet also nicht frontal statt mit einem Lehrer vorne an der Tafel. Vielmehr erarbeiten sich die Schüler interaktiv in Gruppen den Stoff selbst und sind gezwungen, sich aufgrund der zu bedienenden Bildschirme zu bewegen. Die Schüler verwandeln so die Wände in Fenster der Erinnerung und begeben sich, begleitet vom Lehrer, gemeinsam auf eine virtuelle Reise in die Vergangenheit. 

 

Wie aber bringt man 80 Jahre nach Ende der Nazi-Zeit diejenigen dazu, sich mit der Geschichte  auseinanderzusetzen und gar Lehren für die Gegenwart und die Zukunft daraus zu ziehen, für die die Geschichte des Holocaust in immer weitere Ferne rückt, verblasst. Wie erreicht man gar diejenigen, die überhaupt keine Ahnung davon haben. Auch hier geht Yad Vashem einen ganz neuartigen Weg: eine Licht- und Klang-Schau im Valley of Communities, also jenem Ort in Yad Vashem, der an die von den Nazis ausgelöschten jüdischen Gemeinden Europas erinnert.

 

Im Lauf einer halben Stunde erleben die Zuschauer einen Umriss der 2000 Jahre alten Geschichte des europäischen Judentums von der Vertreibung aus Palästina bis zur Shoah. Die beeindruckenden Video- und Klangcollagen werden begleitet von einem mit eindringlicher aber ruhiger Stimme erzähltem Kommentar in recht einfacher Sprache. Bei aller Emotion ist diese Show seriös, zugespitzt ja, aber faktenbasiert und dadurch nicht kitschig. Diese Art der Übermittlung hat ihre Kritiker. Genauso übrigens wie das neue Theater, das gerade in Yad Vashem eröffnet hat, mit Stücken auch für Kinder. Einige empfinden diese Darstellungsformen als ungebührend oberflächlich, unterhaltsam gar und sentimental. Aber es ist ein vielversprechender Weg Empathie und Wissen zu vermitteln, auch bei Menschen, die sich eigentlich nicht mit dem Holocaust auseinandersetzen wollen oder können - eine enorme Herausforderung, der sich Yad Vashem mit großer Kreativität stellt.

 

Eine Yad Vashem-Außenstelle

 

Um möglichst viele Menschen zu erreichen, plant Yad Vashem, innerhalb und außerhalb Israels Holocaust-Bildungszentren zu eröffnen. Die erste und bisher einzige Außenstelle, erst vor einem Jahr eröffnet, befindet sich in Ir HaBahadim, einem großen Ausbildungskomplex der IDF im Negev.


Die Tour führt durch mehrere interaktive und multimediale Ausstellungsräume und kommt ganz ohne Statistiken und bekannte, oft als erdrückend empfundene Bilder aus. Sie beginnt mit einem Einblick in die Vielfalt und den Reichtum jüdischer Kultur in Europa, geht ein auf die großen und kleinen Errungenschaften berühmter und unbekannter Juden und erzählt individuelle Geschichten. Erst nachdem man auf sensible Art eine emotionale Verbindung zu den Menschen aufgebaut hat, wird der Untergang der Gemeinden und die Ermordung dieser Frauen, Kinder und Männer, die man gerade eben kennengelernt hatte, thematisiert. Das ist für den Besucher ein zutiefst erschütternder Moment. Am Ende dieser Reise aber steht ein heller Ausblick auf das, was für diejenigen, die die Shoah überstanden, folgte: das Weiterleben, der Neubeginn, unter großen seelischen, körperlichen und materiellen Schwierigkeiten und Schmerzen, aber doch voller Hoffnung.

 

Ir HaBahadim führt beeindruckend vor Augen, wie das geplante Yad Vashem Zentrum in Deutschland aussehen könnte und weckt die Zuversicht, dass die Arbeit wider das Vergessen erfolgreich sein kann. 

    

Yom HaShoah

 

Bewegend war die offizielle Staatszeremonie am Yom HaShoah, dem israelischen Tag des Erinnern an den Holocaust, mit Reden der 94 Jahre alten Überlebenden Eva Erben, des Präsidenten Isaac Herzog und des Premierministers Benjamin Netanyahu. Die deutsche Delegation bestand unter anderem aus Botschafter Steffen Seibert, vom Freundeskreis waren dabei Kai Diekmann, Vorsitzender des Freundeskreis Yad Vashem, Dr. Richard Lutz, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bahn AG, Frank Miram, Konzernbeauftragter für Politische Bildung der Deutschen Bahn AG, Dr. Kristina Eichhorst, Kuratoriumsmitglied und Leiterin Internationale Beziehungen im Bereich External Affairs bei der Mercedes-Benz Group AG, Eckart von Klaeden, Leiter Politik und Außenbeziehungen bei der Mercedes-Benz Group AG und Nicolas Seidl, Kuratoriumsmitglied des Freundeskreis Yad Vashem. Kai Diekmann und Dr. Richard Lutz legten im Namen des Freundeskreis in dem Abschnitt des Valley of the Communities einen Kranz nieder, der an die vielen ausgelöschten jüdischen Gemeinden in Deutschland erinnert. Es war ein aufwühlender Moment.


Symbolträchtig war der Gang von Dr. Richard Lutz und Frank Miram, beide Deutsche Bahn, zum in Yad Vashem ausgestellten Viehwagon, wie er von der Reichsbahn für die Transporte der jüdischen Bevölkerung in die Konzentrations- und Vernichtungslager genutzt wurde. Dieser Gang symbolisierte die historische Verantwortung, welche die Deutsche Bahn für die Mittäterschaft ihrer Vorgängerin, der Reichsbahn, anerkennt. Dies ist ein großer Verdienst von Bahnchef Dr. Richard Lutz, für den man ihm nicht genug danken kann.

Wenzel Michalski

Geschäftsführer

Freundeskreis Yad Vashem e.V.

 
 
 

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